Strafrecht - Vorabentscheidung
In dem Ermittlungsverfahren gegen Herrn M.
In obiger Sache wird beantragt,
A.
I. die Staatsanwaltschaft darauf aufmerksam zu machen, dass die vorläufige Einstellung des hiesigen Verfahrens gegen M. (im Weiteren: M.) gem. § 154 Abs. 1 StPO „im Hinblick auf die Vorwürfe aus dem A.R.E.S.-Verfahren der Staatsanwaltschaft Reggio Calabria … im Hinblick auf die in Italien zu erwartende Strafe“ nicht darauf gestützt werden kann, dass „die italienische Strafjustiz Priorität“ genieße,
so aber: Vfg. StA Duisburg 121 Js 10/16 vom 27. Mai 2019, Bl. 007385 d. A. –
II. die Staatsanwaltschaft daher unter Hinweis auf die aus dem Legalitätsprinzip sich für sie ergebende unbedingte Pflicht zur Verfolgung von in dieser Hauptverhandlung ausnahmslos in Rede stehenden Offizialdelikten (vgl. §§ 152 Abs. 2; 160; 163 StPO) aufzufordern, bezüglich der von der vorläufigen Einstellung erfassten Taten, eine Anklage zu erheben, die den unionsrechtlichen Anforderungen entspricht; und diese Anklage – um jede weitere Verzögerung des hiesigen Verfahrens zu vermeiden – unverzüglich mit hiesiger Anklage zu verbinden.
III. Soweit die Staatsanwaltschaft der beantragten Aufforderung durch das Gericht nicht nachkommt, bzw. das Gericht dem entsprechenden Antrag nicht nachkommen sollte, wird beantragt,
zur Herstellung der Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung des für vorliegendes Verfahren einschlägigen Unionsrechts dem EuGH auf dem Wege der Beantragung einer Vorabentscheidung gem. § 267 AEUV die Frage vorzulegen, ob die von der vorläufigen Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 1 StPO betroffenen Taten nach ihrer Wiederaufnahme im Falle einer ihnen geltenden rechtskräftigen Verurteilung durch das Landgericht Duisburg einer Verfolgung dieser Taten in Italien gem. Art. 50 GRCh bzw. Art 54 SDÜ entgegenstehen würde. Aus anderer Perspektive: ob die von der StA Duisburg eingestellten Taten dieselben („idem“) sind, wegen derer die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria ein Strafverfahren gegen M. unter der Bezeichnung A.R.E.S. führt.
B.
Begründung:
I. Die gestellten Anträge beruhen auf der Annahme, dass das hiesige Verfahren gegen M. dieselben („Straf-)Taten“ in Sinne der Art. 50 GRCh bzw. Art. 54 SDÜ betrifft, die Gegenstand der in Italien durch die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria unter der Bezeichnung A.R.E.S. bezeichneten Sache sind.
Ohne zureichende Beantwortung der alles andere als einfachen Frage, was unter „derselben Straftat“ i. S. von Art. 50 GRCh/54 SDÜ zu verstehen ist, lässt sich weder – mit der Staatsanwaltschaft Duisburg – davon ausgehen, die italienische Staatsanwaltschaft genieße mit Blick auf die M. Vorrang in Bezug auf die ihm unter der Bezeichnung A.R.E.S. zugeschriebenen Handlungen. Ebenso wenig lässt sich „einfach“ – entsprechend der hiesigen Auffassung – davon ausgehen, diese Handlungen gehörten zu einem Komplex von Taten, die im Sinne des Unionsrechts „dieselben“ seien wie die Taten, die – zum einen – derzeit zu einem Teil vor dem Landgericht Duisburg bereits verhandelt werden, sowie – zum anderen – die von der Staatsanwaltschaft Duisburg vorläufig eingestellte Taten.
Die Klärung dieser Fragen bereitet Mühe. Dieser Mühe hat sich bislang - soweit ersichtlich – niemand mit der erforderlichen Sorgfalt gewidmet.
II.
1. Der EuGH hat allerdings als oberstes rechtsprechendes Organ der Europäischen Union zahlreiche Entscheidungen zu Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh erlassen, die sich mit dem Begriff “derselben (Straf-) Tat“ beschäftigen und diesen als “europäischen Tatbegriff“ geprägt haben. Diese Entscheidungen nachzugehen hätte sich gelohnt. Es handelt sich u.a. um folgenden Judikate:
Zu Art. 54 SDÜ etwa: EuGH NJW 2006, 1781, 1782 – Van Esbroeck; auch:
EuGRZ 2006, 572 – Van Straaten;
EuGH NStZ 2007, 407 – Gasparini; EuGH NJW 2007, 3412 – Kretzinger; EuGH NStZ 2008, 164 – Kraaijenbrink; EuGH NJW 2014, 301 – Spasic; EuGH NJW 2014, 3010 – “M“
Zu Art. 50 GRCh etwa: EuGH EuZW 2012, 543 – Bouda;
EuGH NJW 2013, 1415 – Åkerberg Fransson
EuGH HRRS 2018 Nr. 373 – Garlsson Real Estate;
EuGH HRRS 2018 Nr. 374 – Di Puma + Zecca
2. Der ”europäische Tatbegriff” wird im Übrigen auch vom BGH ausdrücklich gebilligt und ausführlich rezipiert.
– vgl. etwa BGHSt 59, 120, 125ff; BGH wistra 2018, 86; BGH StV 2018, 630 –
3. Nach der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung von Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh durch den EuGH gilt “ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger, autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff. Maßgebendes Kriterium für die Anwendung der beiden Normen ist allein die Identität der materiellen Tat, verstanden als Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“.
– vgl. insbesondere BGHSt 59, 120, 125 ff. sowie u.a. EuGH NJW 2006, 1781, 1782 – Van Esbroeck; auch: Schomburg/Lagodny, Int. Rechtshilfe, Art. 54 SDÜ Rn. 74, Heger in: Hochmayr, „Ne bis in idem“ in Europa, 2014, S. 66 ff; zum Verhältnis von Art. 54 SDÜ zu Art. 50 GRCh: Eser/Kubiciel in Jarass, GRCh, Art. 50 Rn 15 ff. –
Auf materiell-rechtliche Bewertungen in einem Vertragsstaat, vorliegend etwa die Rechtslage in Italien bzw. darauf, ob die begangenen Delikte nach deutschem Recht sachlich-rechtlich im Verhältnis von Tateinheit oder Tatmehrheit stehen, kommt es aus unionsrechtlicher Sicht überhaupt nicht an.
– vgl. EuGH NJW 2006, 1781, 1782 Van Esbroeck; BGHSt 59, 120, 126 -
Auf diese europarechtlich zwingend vorgegebene besondere Begrifflichkeiten ist bislang weder von deutscher noch italienischer Seite auch nur ansatzweise näher eingegangen.
4. Ob bei Anlegen dieser Kriterien vorliegend eine einheitliche Tat anzunehmen ist, obliegt allein der Beurteilung des vorlegenden nationalen Gerichts, hier also des Landgerichts Duisburg.
– EuGH NJW 2006, 1781, 1782 - van Elsbroeck; BGHSt 59, 120 –
Der Europäische Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht allerdings Hinweise zur Auslegung des Unionsrecht zur Beurteilung der Identität der in Frage stehenden Taten geben.
– vgl. EuGH, Vorabentscheidung NJW 2024, 1165 Rn. 79 mwN. –
Darum geht es hier.
III. Vorliegend bilden die M. einerseits in Italien und andererseits in Deutschland zur Last gelegten Handlungen ein einheitliches Geschehen im Sinne von Art. 50 GRCh bzw. Art. 54 SDÜ.
– Wegen der deutlich größeren Spannweite von Art. 50 GRCh, – vgl. Eser/Kubiciel aaO – wird im Folgenden allein auf diese Vorschrift zurückgegriffen. –
Das in Italien gegen M. – offenbar unter der Bezeichnung A.R.E.S. – anhängige Verfahren wird dort spätestens gem. Art. 50 GRCh einzustellen sein, wenn das M. in Deutschland geltende Urteil in absehbarer Zeit - ggf. - rechtskräftig geworden sein wird.
IV. Dem hiesigen Verfahren gegen M. liegt dieselbe “Tat“ iSv Art. 50 GRCh zugrunde, bzw. wird bei seiner Verurteilung durch das LG Duisburg zugrunde liegen wie einem etwaigen späteren Urteil, das ggf. von einem Gericht in Reggio Calabria, Italien, erlassen werden wird.
1. Wie ausgeführt, gilt nach der für die hiesige Strafkammer verbindlichen Auslegung von Art. 50 GRCh (und Art 54 SDÜ) durch die ständige Rechtsprechung des EuGH
– vgl. hieraus EuGH NJW 2006, 1781 – van Elsbroeck –
im Rahmen der Vorschriften betreffend das „Schengener Durchführungsübereinkommen“ (SDÜ) und der „Grundrechtscharta der Europäischen Union“ (GRCh) ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger, ausschließlich nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff. Allein maßgebliches Kriterium für die Anwendung dieses europäischen Tatbegriffs ist die Identität der materiellen Tat. Unter „materieller Tat“ versteht der EuGH – fern von allen prozess- bzw. materiellrechtlichen Tatbegriffen in den einzelnen Strafrechts-Ordnungen der Unionsmitglieder das Vorhandensein eines Komplexes konkreter in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen.
Das heißt u.a., dass bei Auslegung des „europäischen Tatbegriffs“ weder Rückgriff auf Kriterien der prozessualen Tat in der deutschen StPO (vgl. §§ 264, 155 StPO) noch auf materiellrechtliche Tatbegriffe, die für die Konkurrenzlehre des StGB (§§ 52, 53 StGB) von Bedeutung sind, genommen darf. Auch andere „Tat“-Konstruktionen, z.B. der sog. “Fortsetzungszusammenhang“, der in Deutschland nicht mehr,
- BGH GrS 40, 138 –
wohl aber (u.a.) in Italien „gilt“, stehen „europarechtlich“ nicht zur Verfügung.
Es mag naheliegen und entsprechend „verführerisch“ sein, auf Begrifflichkeiten der jeweils heimischen Strafrechtsordnung auszuweichen, umso größere Vorsicht ist zu üben, um nationale Übergriffigkeit zu vermeiden.
Das Verbot der Doppelbestrafung greift ein, wenn ein solcher Komplex unlösbar miteinander verbundener Handlungen vorliegt und die Verfahren in den unterschiedlichen Ländern jeweils Tatsachen aus dem einheitlichen Komplex zum Gegenstand haben.
– BGHSt 59, 120, 125 f., Rn. 15, BGH NJW 2008, 2931, 2932; BGH Strafverteidiger 2017, 589, 593 –
2. Dass der „europäische Tatbegriff“, der für die 27 Mitgliedsstaaten der Union mit zum Teil stark voneinander abweichenden Strafrechtsnormen und zum Teil entsprechend abweichenden strafrechtlichen Begriffen zur Herstellung von Subsumtionstauglichkeit von einer begrifflichen Weite, wenn nicht Vagheit, sein muss, die in Ansehung des grundrechtlichen Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) nicht unerhebliche Probleme bereiten, mag bis zur Vereinheitlichung des europäischen Strafrechts als unvermeidlich hinzunehmen sein. Umso befremdlicher wirkt es dann allerdings, dass die beteiligten Staatsanwaltschaften sich der Frage, was nach Maßgabe insbesondere von Art. 50 GRCh nach Rechtskraft eines hier anstehenden Urteils zu geschehen haben wird, wenn – was vorauszusehen ist – das Urteil des LG Duisburg betreffend M. noch vor Verhandlungsbeginn in Reggio Calabria rechtskräftig geworden sein wird, nicht ernsthaft stellen.
Die in diesem Zusammenhang von italienischer Seite geäußerte und von deutscher Seite geteilt Auffassung, es gebe bei „A.R.E.S.“ und „Pollino“ zwei unterschiedliche Lebenssachverhalte
- Vermerk StA Duisburg v. 1. Juli 2022, Bl. 002603 d.A. –
übersieht, dass insoweit unzulässige Anleihen an den Tatbegriff z.B. des § 264 StPO gemacht werden, der zur Ermittlung des „idem“ einer Sache in Zusammenhang mit Art. 50 GRCh keine Funktion hat (vgl. oben).
Europarechtlich noch ferner liegt es, über den in Deutschland längst überholten sog. Fortsetzungszusammenhang nachzudenken. Ohne Bedeutung für die Identität der Tat im Sinne von Art. 50 GRCh ist auch, dass „der Ermittlungskomplex A.R.E.S. aktuell nicht in Deutschland anhängig ist“.
- Vfg. StA Duiburg vom 23. Mai 2024 –
Immerhin geht es derzeit zwar noch nicht um ein „ne bis in idem“ wohl aber um das dem vorgelagerte, mit „lis pendens“ (also der Rechtshängigkeit) verknüpfte Problem der Überlappung laufender Verfahren, die der gleichen Sache gelten und absehbar in Urteilen münden könnten, die “dieselben“ Taten betreffen.
– vgl. Gleß/Schomburg/Wahl in Int. Rechtshilfe in Strafsachen, III. E 1 Rn. 5 –
Das letztgenannte Phänomen sollte gem. Rahmenbeschluss 2009/48/JI des Rates verhindert werden, d.h., wenn immer es, wo auch immer in der Union um „dieselbe Sache“ geht.
Dass die beteiligten Staatsanwaltschaften den genannten Beschluss ausreichend in Rechnung stellen, scheint ausgeschlossen.
V. Vorliegend geht es einerseits bei „A.R.E.S.“ und andererseits bei „Pollino“ in Bezug auf die M. zur Last gelegten Handlungen um „dieselbe“ Tat im Sinne von Art. 50 GRCh.
Das ergibt sich aus Folgendem:
1. Bei Zugrundelegung der weder in dem M. in Deutschland noch dem ihm in Italien geltenden Verfahren ernsthaft geprüften europarechtlichen Voraussetzungen “derselben“ Tat nach Art. 50 GRCh sprechen gute Gründe dafür, dass die in Italien unter A.R.E.S. und in Deutschland in der hiesigen Hauptverhandlung verhandelten Handlungen des M. europarechtlich “dieselbe“ Sache betreffen.
a. Über die Nämlichkeit, d.h. das “idem“ einer Sache entscheidet – das sei noch einmal ausdrücklich gesagt -, ob es um einen “Komplex konkreter in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“ geht. (s.o.)
– vgl. hier nur EuGH NJW 2006, 1781, 1782 – van Esbroeck; BGHSt 59, 120, 126 f –
b. Von entscheidender Bedeutung für die Annahme von Tatidentität zwischen den Handlungen des M. in Zusammenhang mit “Pollino“ und denen in Zusammenhang mit “A.R.E.S.“ i.S. von Art. 50 GRCh sind die der Konkretisierung der Anklage dienende Ausführungen der Staatsanwaltschaft Duisburg.
3. Sie belegen nachgerade idealtypisch das Vorliegen eines nach Zeit, Raum, Zweck und Beteiligten unlösbar miteinander verbundener Tat-Komplexes:
a. Die Staatsanwaltschaft Duisburg geht davon aus, dass M. “Mitglied einer (ausländischen) kriminellen Vereinigung, der `Ndrangheta“ ist und seit mindestens 2014 mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben hat. Die angeblich diesbezüglichen Aktivitäten des M. waren Gegenstand der Ermittlungen der “Gemeinsamen“ Ermittlungsgruppe POLLINO sowie der “Operation A.R.E.S“.
– SB Fallakte Nr. 56, S. 3/4 –
Die Ergebnisse der Ermittlungsgruppe Pollino sind Grundlage der hiesigen Hauptverhandlung, die Ergebnisse von “A.R.E.S.“ endeten – unter vorläufiger Aussparung von M. - in Reggio Calabria.
b. Darüber hinaus sind im hiesigen Verfahren beschuldigte Personen z.T. identisch mit den in Reggio Calabria Beschuldigten.
c. Daraus folgt zum einen, dass in Ansehung des europarechtlichen Tatbegriffs eine Nicht-Identität der Taten sich nicht aus der Benennung einer “Ermittlungsgruppe“ (“POLLINO“) bzw. der Bezeichnung einer “Operation“ einer Ermittlungsbehörde (A.R.E.S.) ergeben kann.
d. Zum anderen sind von denen sowohl von POLLINO als auch von A.R.E.S. ausgehenden Ermittlungen dieselben Mitglieder einer ausländischen kriminellen Vereinigung i.S.v. § 129 b StGB betroffen, mag diese nun – zu Recht oder zu Unrecht – `Ndrangheta genannt werden. Außer M. dürfte dies z.B. für J., B, T, H gelten.
– vgl. einerseits Anklageschrift Staatsanwaltschaft Duisburg Bl. 6 ff; andererseits Fallakte Nr. 56 S. 4 –.
VI. Die – staatsanwaltliche – Charakterisierung der Handlungen des M. in Bezug auf dessen (angebliche) Tätigkeiten in Zusammenhang mit seiner Beteiligung an einer ausländischen kriminellen Vereinigung am Geschehen auf dem internationalen Kokainmarkt erfüllt die Voraussetzungen, die der EuGH für das Vorliegen “derselben“ Tat verlangt, mit nachgerade erstaunlicher Genauigkeit. Woraus dann eine Trennung zwischen Taten, für deren Verfolgung aufgrund zwischenstaatlicher behördlicher Verbindungen Italien und Deutschland gleichsam gemeinsam zuständig sein sollen, ist nicht erkennbar.
- Von einer Identität der gegen M. gerichteten Tatvorwürfe unter der Bezeichnung A.R.E.S. bzw. Pollino gehen i. Ü. offenbar auch die Staatsanwaltschaften Duisburg und Reggio Calabria aus. Ausweislich eines Schreibens der StA Duisburg an die Unterzeichner (Email vom 18.07.2024) ist die StA Duisburg der Auffassung, dass eine Verfolgung eines M. angeblich zurechenbaren Tatkomplexes aus A.R.E.S. auch in Duisburg möglich sei. Dies ergibt sich aus der o.g. Email. Dort heißt es nämlich: „Wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben wären, namentlich ein Geständnis in Sachen A.R.E.S. sowie der Mitgliedschaft in der `Ndragheta unter ausdrücklicher Benennung derselben und eine Verurteilung wegen dieser Tatvorwürfe“ bestünde seitens der StA Duisburg „Bereitschaft…, die Tatvorwürfe aus dem Komplex A.R.E.S. … zum Gegenstand des hiesigen Ermittlungsverfahrens … sowie zum Gegenstand einer Erörterung mit den italienischen Kollegen der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft von Reggio Calalbria und deren Einverständnis mit der Übernahme der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft Duisburg zu machen.“
Deutlicher kann das „idem“ der Vorwürfe in Bezug auf M. in den Verfahren A.R.E.S. und Pollino nicht zum Ausdruck kommen. Eher rätselhaft bleibt allerdings, was ein Geständnis in Sachen `Ndrangheta im Rahmen der deutschen Strafgerichtsbarkeit zu suchen hat. Insoweit läge wohl eine weder in der StPO noch im Europarecht vorgesehene Form einer „Amtshilfe“ der StA Duisburg für die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria in Richtung einer Verurteilung eines nur in Italien existierenden Organisationsdelikts vor. Zum Ablauf der Korrespondenz mit den Unterzeichnern siehe Anlagen. -
VII. Bezeichnenderweise würde in Deutschland vorliegend materiell-rechtlich zwischen der Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen Vereinigung und den einzelnen Delikten, die in Sinne der Vereinigung begangen werden, Tateinheit gem. § 52 StGB bestehen.
– vgl. BGHSt 60, 308, 320 Rn. 42 –
Die frühere Rechtsprechung des BGH hätte sogar eine Klammerwirkung des Organisationsdelikts im Verhältnis zu den an sich getrennt verwirklichten Taten angenommen und demgemäß alle mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte an einer kriminellen Vereinigung zu einer sog. tatbestandlichen Handlungseinheit verknüpft.
– vgl. BGHSt 29, 288, 290 ff –
Wenn überhaupt einzelstaatliche Konkurrenzlehren Hinweise für den europastrafrechtlichen Tatbegriff geben können, ist die innerstaatliche deutsche Rechtslage, der zufolge Tateinheit zwischen Organisationsdelikt und Einzeltaten anzunehmen ist, immerhin ein Indiz in Richtung auf das Vorliegen von Tatidentität auch im europarechtlichen Sinn.
VIII. Nach allem:
Dem gestellten Antrag ist stattzugeben. Die Staatsanwaltschaft ist auf die Befolgung ihrer Pflicht zur Verfolgung von Straftaten anzuhalten. Hilfsweise ist die hier angesprochene Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.