RECHTSPRECHUNG - STRAFRECHT
Plädoyer Prof. Dr. Klaus Bernsmann 14. Februar 2023
In der Strafsache M., Landgericht Essen
I.
1. Zu den urteilserheblichen Tatsachen werde ich mich nicht weiter äußern. Darum geht es nicht mehr. Es geht um schuldangemessene Strafzumessung und die Beachtung von Formerfordernissen der Strafprozessordnung. Herr M. hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Ein Geständnis, auf das sich die Kammer in einem kürzlich gefassten Beschluss ausdrücklich beruft. Ein Geständnis, das, so die Kammer, eine Beweisführung über die per Encro-Chat erlangten Daten entbehrlich mache.
So war das Geständnis auch gedacht – umfassend, zur Beschleunigung und Vereinfachung eines ansonsten möglicherweise schwierigen Verfahrens. Das Geständnis war verbunden mit der Anregung, sich gem. § 257 c StPO zu verständigen. Warum es nicht einmal den Versuch einer Verständigung gegeben hat, erschließt sich mir nicht. Wir haben doch inzwischen auch ohne Verständigung in einem abgetrennten Verfahren verhandelt. Man hätte sich wohlmöglich einige Probleme erspart.
Was die Vorsitzende zu diesem Thema gesagt hat, habe ich nicht verstanden. Ich war nicht nur, aber auch in Verfahren vor dem Landgericht Essen an einigen erfolgreich, d. h. bis zur Rechtskraft des Urteils problemlos durchgeführten Verständigungen beteiligt. Dazu bedurfte es nur der prozessüblichen Fairness.
a. Herr M. hat sein Geständnis ohne konkrete Aussicht auf die – zweifellos von einer gelungenen Verständigung ausgehenden – Wohltaten einer berechenbaren und - vor allem – unter Vermeidung der bei gescheiterter Verständigung deutlich höheren sog. Sanktionsschere - abgelegt.
Ein solches Geständnis ist ein bestimmender, d. h. nachhaltiger Strafzumessungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 S. 1 StPO. Nicht zuletzt der 4. Senat des BGH weist darauf regelmäßig hin. Bei gelungener Verständigung wäre das Geständnis im Übrigen nicht anders ausgefallen.
b. Zugunsten von Herrn M. ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Untersuchungshaft infolge der Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie mit besonderen Belastungen verbunden war. Untersuchungshaft hat wegen § 51 Abs. 1 StGB zwar grundsätzlich keine strafmildernde Wirkung. Das gilt aber nicht, wenn belastende Umstände die üblichen, mit Untersuchungshaft verbundenen Erschwerungen übersteigen. So verhält es sich hier.
c. Zugunsten von Herrn M. ist weiterhin, und zwar deutlich strafmildernd in Rechnung zu stellen, dass die ihm zurechenbaren Handlungen nach dem BtMG zu einem großen Teil von den Ermittlungsbehörden beobachtet wurden, d. h. gleichsam unter deren Augen erfolgten. Die entsprechenden Beobachtungen hatte dabei die Qualität einer Überwachung, die einen jederzeitigen sicheren Zugriff ermöglicht hätte. Konkret schädliche Wirkungen von in den Verkehr gebrachten Betäubungsmitteln hätten von Seiten der Ermittlungsbehörden jederzeit verhindert werden können - mit erheblicher Verringerung der Herrn M. vorgeworfenen Menge an gehandelten Betäubungsmitteln. Warum die Ermittlungsbehörden den vom BtMG geschützten Rechtsgutträgern nicht frühstmöglichen Zugriff schulden, werde ich nie verstehen. Meine entsprechende, in dieser Hauptverhandlung an Vertreter der Ermittlungsbehörden gestellte Frage wurde weitergereicht, aber nicht beantwortet. Das Eingriffsermessen, das dem Staat angeblich zusteht, relativiert in Wahrheit die dauernd beschworene Gefährlichkeit des Drogenkonsums. Dass die Beteiligung des Staates durch Unterlassen des frühstmöglichen Zugriffs immerhin strafmildernd wirkt, ist dann aber das Mindeste.
d. Wie derzeit mit der von den Regierungsparteien in Aussicht gestellten, möglicherweise demnächst realisierten Liberalisierung des Betäubungsmittelstrafrechts in Bezug auf die hier in Betracht kommende sog. weiche Droge Marihuana grundsätzlich umzugehen ist, überlasse ich der Kammer.
Was ich nicht der Kammer, und schon gar nicht der mit Blick auf den von ihr gestellten Strafantrag maßlosen Staatsanwaltschaft überlasse, ist die Kenntnisnahme von einer gerade veröffentlichten Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die nachdrücklich auf ein wichtiges, aber häufig nicht beachtetes Strafzumessungskriterium aufmerksam macht. Es geht um den Beschluss des BGH, 1 StR 83/22 v. 19.05.2022. Dort heißt es u.a. – ich zitiere:
„Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.
…
Die insoweit vom Landgericht angestellte Erwägung, dass es sich bei Amphetamin um eine harte Droge handelt, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Zwar kommt der Art des Rauschgifts und seiner Gefährlichkeit im Rahmen der Strafzumessung grundsätzlich eine eigenständige Bedeutung zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht ein für die Strafzumessung maßgebliches Stufenverhältnis von sogenannten harten Drogen wie Heroin, Fentanyl, Kokain und Crack über Amphetamin, das auf der Gefährlichkeitsskala einen mittleren Platz einnimmt, bis hin zu sogenannten weichen Drogen wie Cannabis (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. August 2018 – 1 StR 232/18 Rn. 4; vom 23. Januar 2018 – 3 StR 586/17 Rn. 5 und vom 14. Juni 2017 – 3 StR 97/17 Rn. 13).“
2. Zusätzlich, wenn nicht in allererster Linie, ist strafmildern in Rechnung zu stellen, was im Laufe dieser Hauptverhandlung leider überhaupt nicht angemessen zur Sprache gekommen ist. Ich meine den flüchtigen, sehr unreflektierten Umgang mit zwei wissenschaftlichen Disziplinen, die es Juristen und Juristinnen m. E. kategorisch verbieten, selbständig, notwendigerweise laienhafte Diagnosen zu stellen.
Weder die Kammer noch der Sachverständige R.-S. haben der Lebensgeschichte des G. M. größere Beachtung zukommen lassen. Versuche der Verteidigung, auf die ebenso traurige, wie tragische, besondere Lebensgeschichte des Herrn M. aufmerksam zu machen, sind gescheitert.
Vor einer allfälligen revisionsrechtlichen Überprüfung der damit verbundenen, mir nicht nur als Verteidiger, sondern auch persönlich nahegehenden Indolenz insbesondere eines, angeblich auch klinisch tätigen, Arztes - ein letzter Versuch:
Ein junger Mann – 16 Jahre alt - und damit natürlich nicht, wie die Vertreterkammer gemeint hat, feststellen zu können, „im Kindesalter“ befindlich - wie unaufmerksam darf ein Gericht eigentlich sein, um sich nicht grundsätzlich zu disqualifizieren? – ein junger Mann also, will als Basketballer Berufssportler werden. Er ist voller Ehrgeiz und mit großem Talent gesegnet. Sein Talent verschafft ihm die Möglichkeit, ein sog. Sportinternat, d. h. eine Ganztagsschule zur Förderung von künftigen Spitzensportlern, zu besuchen. Dort kann bzw. soll man – R.-S. offenbar unbekannt - neben der Schule unter optimalen Bedingungen trainieren. Talent und Trainigsfleiß führen G. M. zu Berufungen in Auswahlmannschaften. Die internationale Basketballgroßmacht Serbien liegt gleich neben Albanien, der von großer Hoffnung gespeiste Ehrgeiz könnte bei Herrn M. nicht größer gewesen sein.
Dann aber: Aus dem Nichts ein schwerer Unfall. Herr M. liegt zwei Tage lang im Koma. Er war aus Übermut auf einen hohen Walnussbaum geklettert, ein Ast bricht und Herr M. stürzt ab. Danach, d. h. nach einigen Wochen Klinikaufenthalt, ist alles anders: Im Basketball geht nichts mehr – keine Passgenauigkeit, kein Dribbeln und der Korb wird zu einem kaum noch zu treffenden Fremdkörper - die Karriere ist zu Ende, bevor sie so richtig begonnen hat. In der Schule tut man ihm nichts, er bekommt – trotz stark nachlassender Leistungen – ein mittelmäßiges Abschlusszeugnis. Man hat offensichtlich Mitleid mit ihm.
Und was versucht Herr R.-S. dem Gericht zu alldem zu „erklären“: Basketball sei ein „Hobby“ – ich wiederhole ein „Hobby“ - des Herrn M. gewesen. Kein Wort zum Ende einer sich realistisch ankündigenden Karriere als Berufsbasketballer, vielleicht sogar in Serbien, jedenfalls als albanischer Nationalspieler. Kein Wort zu den nachlassenden Zensuren in der Schule. Für Herrn R.-S. ist der schreckliche Unfall – 2 Tage im Koma - ohne Auswirkungen auf die weitere psychische und soziale Entwicklung des Herrn M. geblieben.
Das ist offensichtlich falsch. Gleichwohl werden die Ausführungen des Herrn R.-S. vom Gericht als „hervorragend“ bezeichnet. Dabei befindet sich darin weder ein korrekt geschilderter Lebensweg des Herrn M. noch auch nur der Versuch einer – angesichts des längere Komas - in erster Linie erforderlichen, validen neurotraumatologischen Diagnostik. Dazu wäre Herr R.-S. allerdings auch gar nicht in der Lage gewesen.
Herrn R.-S. hat – nach eigenen Ausführungen in der Hauptverhandlung noch nie per Traktografie sichtbar gemachte Verletzungen einer Nervenbahn im Hirn gesehen. Herr R.-S. hat – konsequenterweise - auch keine klinische Erfahrung mit den Besonderheiten der Symptomatik eines ggf. nur per Traktografie feststellbaren Hirnschadens und dessen Folgen in Bezug auf eine Beeinträchtigung der Hirnleistungen. Nach wörtlicher Mitschrift zitiere ich Herrn R.-S.:
„Neurologie habe ich ein Jahr gemacht, ich habe keine praktische Erfahrung zu Traktographie, ich bin kein Neurologe und habe hier nur versucht, mich der Thematik aus psychiatrischer Perspektive anzunähern“.
Diese Äußerung macht deutlich, dass von einer sorgfältigen, d. h., fach- und kunstgerechten Anamnese von Umfang und Folgen einer bei Herrn M. nicht auszuschließenden, sondern im Gegenteil sehr nahe liegenden somatischen (d. h. körperlicher herleitbaren) Hirnschädigung keine Rede sein kann.
In den Zusammenhang einer ungenügenden, weil sehr nachlässigen, Beschäftigung mit dem Leiden des Herrn M. gehört auch das fern jeder sprachlichen Sorgfalt erstellte und daher für seine Adressaten unzumutbare schriftliche „Gutachten“ des Herrn R.-S.. Er hat insoweit auf Frage der Verteidigung angegeben, er habe dieses – mit unzähligen sprachlichen Mängeln behaftete Gutachten - persönlich angefertigt. Der Augenschein spricht dagegen. Weitaus näher liegt, dass sog. KI, also, Künstliche Intelligenz, zu Hilfe genommen und der so zumindest in größeren Teilen zu Stande gekommene Text nicht weiter überprüft worden ist.
Herr R.-S. hat es nicht nur versäumt, Herrn M. – wie klinische und wissenschaftlich geboten - an einen Sachverständigen mit neurologischer Kernkompetenz zu überweisen, er hat auch nicht einmal darüber nachgedacht, wie aus einem intensiv trainierenden, hoffnungsfrohen Leistungssportler ein Saison-Aushilfsarbeiter werden konnte, der zwischen Albanien und Deutschland pendelt. Herr R.-S. hat daher auch keinen Gedanken darauf verwendet, warum - aus kriminologischer Perspektive geradezu zwingend – Herr M. beim Drogenhandel gelandet ist. R.-S. hat das Vorher nicht interessiert – weil – und das ist erschütternd – Herr M. jedenfalls nachher in der Lage gewesen sei, mit Marihuana zu handeln. Es fällt mir schwer, das nicht zynisch zu nennen.
Die traurige Lebensgeschichte des G. M. ist in der Hauptverhandlung kaum, jedenfalls nicht angemessen, vorgekommen. Die Kammer hat sich dafür nicht näher interessiert. Auch der Kriminalpsychiater hat das schicksalhafte Scheitern des G. M. auf – erstaunlich - leidenschaftslose Art und Weise zunächst nicht zur Kenntnis genommen und in der Hauptverhandlung trotz intensiver Befragung auch nicht näher zur Kenntnis nehmen wollen.
Nicht einmal der geradezu stoische Gleichmut, mit dem Herrn M. die Bagatellisierung des Scheiterns seines Lebenstraums hingenommen hat, was einem Psychiater spätestens in der Hauptverhandlung hätte zu denken geben müssen, hat Herrn R.-S. berührt. Einen Neurotraumatologen hätte die Abgestumpftheit des Herrn M. mit Sicherheit daran erinnert, dass es sich bei der zutage tretenden „Stumpfheit“ um ein typisches Symptom einer Hirnverletzung handeln und damit zugleich fehlende Widerstandskraft gegen äußere Reize, mit anderen Worten eine fehlende oder defizitäre Steuerungsfähigkeit indizieren könnte. Zu den Laiendiagnosen anderer Verfahrensbeteiligter will ich mich nicht äußern. Ich weiß aber, dass es Menschen gibt, die an Schizophrenie leidenden Menschen an dem Händedruck erkennen können bzw. dies glauben. Vielleicht verhält es sich mit Hirnschäden ja ähnlich. So leicht wäre dann die Neurotraumatologie und das Verstehen von Äußerungen hirngeschädigter Menschen.
Ich gestatte mir an dieser Stelle - ausnahmsweise - eine persönliche Anmerkung, weil mir eine menschlich praktizierte Psychiatrie lebenslang am Herzen gelegen hat und Herr R.-S. für mich – leider - für deren Gegenteil steht.
Eine derart ebenso offensichtliche wie schwerwiegende Fehlleistung beim Herangehen an ein mögliches schweres Hirnleiden und damit zugleich ein Schuldfähigkeitsdefizit, wie sie gerade von mir angesprochen wurde, habe ich in meiner mehr als fünfzigjährigen – ja mehr als fünfzigjährigen – theoretischen und praktische Beschäftigung mit der Psychiatrie kaum je erlebt.
Was ich mit größtem Respekt für die wissenschaftliche und menschliche Größe meiner beiden Lehrer bei meinen psychiatrischen Studien sagen möchte: Ich habe im Laufe meiner Arbeit zu psychiatrischen Themen mit einigen bedeutenden Psychiatern zusammenarbeiten dürfen; d.h., bei deren Arbeit mit psychisch kranken Menschen und bei gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeiten an forensischen Themen: und zwar mit Karl-Peter Kisker, sicher einem der größten Psychiatern im Nachkriegsdeutschland und mit Klaus Dörner, dem entscheidenden Reformer der Anstaltspsychiatrie und Vater einer gemeindenahen sozialen Psychiatrie. Mit beiden gemeinsam habe ich mehrfach, u.a. auch zu Fragen der Kriminalpsychiatrische, veröffentlicht – nachlesbar z.B. in der „MoKrim“ und in der „Psychiatrie heute“. Ich habe durch diese beiden Persönlichkeiten gelernt und vor allen Dingen erlebt, wie viel Menschen-Liebe, Respekt, Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit es bedarf, über das psychische Leiden eines anderen Menschen ohne Anmaßung, Marginalisierung (Gerichtschätzung) und Verdinglichung der betroffenen Person zu befinden.
Es geht ja um die Schwere eines Leidens, das die Person, deren Körper und/oder Seele befallen hat.
Die von Gesetz abgefragte Steuerungsfähigkeit hat damit zunächst nichts zu tun. Sie ist eine normative Dimension. Die Steuerungsfähigkeit empirisch beurteilen zu wollen, ist entweder ein großes Wagnis oder Ausdruck einer gnostischen Hybris eines Psychiaters, der - allen Ernstes - glaubt, beurteilend in die Seele einer anderen Person blicken zu können.
Der Scheu, eher der Bescheidenheit von zahlreichen bedeutenden Psychiatern in Bezug auf eine gnostische Seelenanalyse eines Menschen entspricht dabei schon dem alttestamentarischen 1. Gebot: „…Du sollst dir kein Bildnis … machen …“.
In der Psychiatrie bzw. der Neurotraumatologie geht es um schwere Krankheiten, die ausschließlich die Psyche, aber auch um solche, die in erster Linie den Körper befallen haben. Für die letztgenannten, körperlich bedingten Schäden bedarf es zur genauen Entschlüsselung deutlich mehr und anderes als eines Gespräches in einer Gefängniszelle. Gemäß meinen praktischen Erfahrungen sind 12-16 Stunden die Mindestzeit zu einer halbwegs verlässlichen forensischen Diagnostik. Über die vier Stunden, die Herr R.-S. bei Herrn M. gewesen ist, schweige ich. Bei einer körperlich nachweisbaren, sog. exogenen Psychose, wie sie z.B. bei einem Hirnschaden vorliegen könnte, versagt nachgerade definitionsgemäß jeder Versuch, die kranke Person in allen ihren Äußerungen zu verstehen, mögen auch einzelne Handlungen als alltagsadäquat erscheinen:
Kein Dolmetscher kann eine Sprache in allen Einzelheiten verstehen, wenn Einzelheiten dieser Sprache, wenn überhaupt, nur dem Sprecher zugänglich sind.
Ein Psychiater, der nach extrem kurzer Anamnese meint, in die Seele des Herr M. geblickt zu haben, hat Wesen und Logik der Psychiatrie nicht verstanden, er ist dadurch als Sachverständiger disqualifiziert. Hinzukommt, dass er – von Herrn R.-S. eingeräumt - nicht die medizinische Disziplin vertreten hat, um die es auch, wenn nicht vornehmlich geht: die Neurotraumatologie. Die nicht zuletzt wissenschaftlich gebotene Bescheidenheit hätte von einem Sachverständigen verlangt, sich zumindest partiell für nicht zuständig zu erklären.
Die Kammer sieht das – mit den Argumenten des Herrn R.-S. - anders. Die Kriminalpsychiatrie hat in nicht allzu ferner Vergangenheit viel Unheil angerichtet. Die von Herrn R.-S. an den Tag gelegte, wenig aufmerksame und unsensibel-unemphatische Exploration des G. M. entspricht weder dem inzwischen erreichten Stand der wissenschaftlich betriebenen Psychiatrie noch gar dem der rein naturwissenschaftlichen Neurotraumatologie.
Es geht hier – wie auch die Vorsitzende hin und wieder zu Recht angemerkt hat, für Herr M. um viel Verlust an Lebensqualität. Umso ernsthafter muss sich das Gericht darum bemühen, Umstände möglichst zutreffend einzuschätzen, die aus einer fachfremden wissenschaftlichen Sphäre rühren.
Wenn, wie hier, aufgrund in der Hauptverhandlung nicht angezweifelter Tatsachen, nämlich eines Sturzes aus großer Höhe mit anschließendem längerfristigen Koma, eine schwere Hirnschädigung nicht auszuschließen ist – und es insoweit keinen erstzunehmenden Wissenschaftler gibt, der bereit sein würde, eine mögliche Hirnschädigung allein einem dafür wissenschaftlich nicht zuständigen Psychiater anvertraut wird, ist – im Zweifel – zumindest eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nicht auszuschließen und § 21 StGB strafmildernd in Rechnung zu stellen.
Angesicht des Ausmaßes der Herrn M. aufgrund einer Ignorierung bzw. Bagatellisierung der Möglichkeit einer hirnschadensbedingten Delinquenz drohenden zu hohen Bestrafung einerseits und dem unbedingten Gebot eines Wahrheit und Gerechtigkeit anstrebenden Urteils, sind allerdings ein Wiedereintritt in die Beweisaufnahme und die Beauftragung eines neuro-traumatologischen Sachverständigen Mittel der Wahl.
Erforderlich ist daher folgender Eventualbeweisantrag:
Für den Fall einer Verurteilung von Herrn M. unter Annahme seiner im vollen Umfang gegeben Schuldfähigkeit, beantrage ich unter Bezugnahme auf die soeben gegebene Begründung des Erfordernisses einer neuro-traumatologischen Begutachtung von Umfang und Wirkung eines bei Herrn M. vorliegenden Hirnschadens die Begutachtung von Herrn M. durch den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. Hömberg - ladungsfähige Anschrift gerichtsbekannt - bzw. eines anderen auf dem Gebiet der Auswertung von traktographischen Befunden ausgewiesenen Neurologen. Die von dem Sachverständigen R.-S. zugrunde gelegte Methode der Exploration hat vorliegend die Logik der wissenschaftlichen Beurteilung der Schuldfeststellung verfehlt: Bei ggf. schweren, biologischen, d.h. somatisch begründbaren Störungen der Hirntätigkeit, ist, weil es nicht um „Verstehen“ von Symptomen, sondern um die „Erklärung“ von Ursachen geht, die Schuldfähigkeit regelmäßig ausgeschlossen,
- Vgl. hier nur BGH NStZ 1991/ 527; BGH Beschl. v. 15.04.2021, 2 StR 348/20 -
jedenfalls i.S. von § 21 vermindert. Der Sachverständige hat dies, weil er nicht über die Kompetenz zu Beurteilung von Hirnschäden verfügt, verkannt, indem er hat – zu Unrecht - angenommen, einen organisch bedingten Hirnschaden, d.h. den Ausfall von Hirnregionen, durch eine Symptomanalyse aufgrund einer kurzfristigen Anamnese, beurteilen zu können, obwohl er nicht einmal über das erforderliche Spezialwissen betreffend die neurotraumatologischen Grundlagen eines Hirnschadens verfügt. Bei Vorliegen eines Hirnschadens geht es mit Blick auf die §§ 20, 21 StGB nicht um Versuche, die Psychologie des Probanden nachzuzeichnen – das ist bei Hirnschäden ausgeschlossen – es geht allein um die Schwere der Schädigungen.
II.
Zum ordnungsgemäßen Verfahren: Es fehlt nach wie vor ein Beschluss der Kammer, der begründet, warum Herr M. trotz Fehlens eines ihm nicht vorgelegten, offensichtlich auch nicht vorlegbaren Haftbefehls monatelange U-Haft erlitten hat. Weder der entsprechende Beschluss der Kammer vom 08.09.2022 noch der Beschluss des OLG Hamm vom 23.06.2022 kann das Tatgericht von der Pflicht befreien zu begründen, warum Herr M. sich jedenfalls bis zum 30.08.2022 in Haft befunden hat.
Ich erinnere diesbezüglich an die möglicherweise bestehende Parallele zum Problem der sog. Rügeverkümmerung. Hier hat der Große Senat des BGH nach jahrzehntelanger Akzeptanz einer unangreifbaren Richtigkeit des Protokolls (BGHSt 51, 298) eingegriffen, aber zugleich auch ein formalisiertes Verfahren geschaffen. Davon kann in Bezug auf die Ersetzung eines Haftbefehls – etwa im Wege des – von der Kammer nicht einmal in Angriff genommenen Freibeweises – nicht die Rede sein. Eine höchstrichterlich anerkannte, geschweige denn verfassungsrechtlich bestätigte Rechtsprechung gibt es nicht. Es wird daher Bescheidung des Antrags der Verteidigung vom 30.08.2022 beantragt.
Prof. Dr. Klaus Bernsmann, Bernmann Rausch & Partner, Düsseldorf